Nach einer kühlen Nacht steht heute der zweite Tag auf dem Kungsleden an. Um etwa acht Uhr steigen wir aus unserem Zelt,
das von einer Schicht Tau überdeckt ist. Kaum aus dem Schlafsack geschlüpft, wird uns bewusst, wie sich der Sommer hier
oben charakterisiert. Wind, Nässe und Kälte sind hier inhärent. Der Wald um uns ist dicht und feucht. Nun etabliert sich eine Routine, die uns bis ans Ende des Kungsledens begleiten wird: Wir ziehen uns warm an, mischen einen Hafer-Porridge mit gefriergetrockneten Beeren und Kakaonibs, und stellen parallel dazu die Bialetti-Kanne auf den Gaskocher. Für letzteres würde uns jeder Ultra-Lightweight Backpacker verspotten, und jeder Kaffeegeniesser in Ehren würdigen.
Auf dem Tagesprogramm stehen heute etwas mehr als 20km, wobei wir als grobes Tagesziel die STF-Hütte in Aktse ansteuern, wo wir in der Nähe unser Zelt aufbauen möchten. Die Hütte liegt am nördlichen Ufer des Laitaure Sees, den wir gegen Abend überqueren werden. Der See gilt zusammen mit dem Rapaätno Fluss, der mehr als 20 Gletscher entwässert, als eine der schönsten Landschaften schwedens. Der Gipfel Skierfe, den wir am Folgetag besteigen werden, bietet eine einmalige Aussicht auf das Flussdelta des Rapaätno.
Nachdem wir unsere Rucksäcke gepackt haben, starten wir die zweite Etappe auf dem Kungsleden. Zuerst geht es noch eine Weile weiter durch den dichten, feuchten Wald, in dem wir übernachtet haben. Stetig legen wir dabei einige Höhenmeter zurück, bis sich der Wald öffnet, die Blätter goldiger werden und die Sonne immer stärker durch den sich öffnenden Wald schimmert. Ohne es zu bemerken ist der Wald plötzlich verschwunden, und wir finden uns auf einem Hochplateau wieder.
In beeindruckender Art und Weise zeigt sich erstmals die Weite und die Unberührtheit der Landschaft, in der wir uns befinden. Weit und breit ist keine Infrastruktur zu sehen. Aus dieser Perspektive scheint auch der See Stuor Dáhtá, an dem wir gestern vorbeigekommen sind, winzig. Am südlichen Ufer des Sees erkennen wir den Hügel, den wir gestern überschritten haben. Dahinter muss Kvikkjokk liegen, der gestrige Startpunkt unserer Wanderung. Der Moment ist ein Sinnbild dafür, was man in kurzer Zeit aus einger Kraft zu Fuss zurücklegen kann. Beeindruckt von unserer Leistung überschreiten wir das Hochplateau weiter in Richtung Norden, und laufen dabei immer mehr in den Herbst hinein.
Gegen Ende des Hochplateaus zeigt sich der grosse See Tjaktjajaure, wobei wir nord-westlich entlang des Hochpleteaus an diesem vorbeilaufen. So sehr man sich auch bemüht, etwas Zivilisation oder Infrastruktur zu erkennen, wird man entlang des Seeufers und dessen Päripherie nicht fündig, was uns bestärkte.
Inmitten auf dem Hochplateau erreichen wir einen kleinen Shelter und nutzen diesen als Rastplatz. Diese unbewarteten Unterkünfte dienen als Notunterschlupf, weshalb nur in Notfällen darin übernachtet werden darf. Der Shelter war noch beheizt, was uns vermuten liess, dass jemand vor unserer Ankunft hier war. Den anliegenden Bach nutzen wir, um unsere Trinkflaschen aufzufüllen. Der STF erwähnt zwar explizit, man könne das Wasser aus fliessenden Gewässern problemlos trinken. Die Rentierherden entlang den Gewässern verunsichern uns allerdings, weshalb wir auf den Wasserfilter nicht verzichten wollen.
Nach dem Mittag beginnt der Abstieg vom Hochplateau. Hier begegnen wir den ersten friedlich grasenden Rentieren. Hinter ihnen öffnet sich ein westliches Seitental, wo sich ganz zuhinterst ein paar Erhebungen mit Firnfeldern zeigen. Um an das Seeufer des Laitaure zu gelangen, müssen wir allerdings noch einen kleinen Bogen um den Berg Tjahkelij laufen, der nördlich vor uns liegt.
In konstantem Tempo schlängeln wir uns durch eine Moorlandschaft und finden unseren Weg an das Ufer des Laitaure Sees, welchen es nun zu überqueren gilt. An den meisten Seen hat man auf dem Kungsleden zwei Optionen: Entweder, man rudert selbst über den See mit einem der beiden Ruderboten, die am Ufer zur Verfügung stehen. Oder man lässt sich mit einem Shuttle-Boot über den See chauffieren. Letztere haben aber einen eher spärlichen Fahrplan und wir stellten fest, dass das nächste Boot erst in ein paar Stunden fahren wird. Also rätseln wir, ob wir über den See rudern sollen. Die Distanz ist ziemlich gross (ca. 3km), das Wetter wild, und die milchige Trübheit des Wassers gibt einen Vorgeschmack auf die Wassertemperatur. Nach längerem Überlegen sehen wir an der anderen Uferseite ein Motorboot, welches sich bewegt und in unsere Richtung fährt. Wie es der Zufall will - und das soll nicht der letzte Zufall auf dem Kungsleden sein - handelt es sich um unseren Shuttle, der an diesem Tag wegen einer Fahrschule öfters als geplant fahren wird. Wir hatten ziemlich Glück, und konnten somit bequem die 3km per Shuttle überqueren. Auf dem Boot erfahren wir, dass die Seeüberquerung bei schlechten Wetterverhältnissen und wenig Übung schnell einmal gegen zwei Stunden dauern kann, weil der See eine leichte Strömung hat und man so immer wieder vom Kurs abdriftet. Somit sind wir dankbar für diesen Zufall, und geniessen die Aussicht über das Laitaure Delta, wohinter sich die unberührte Wildnis des Sarek Nationalparks zu erkennen gibt. Am rechten Seeufer erkennen wir den Gipfel Skierfe, welchen wir am nächsten Tag besteigen werden. Dort soll uns bewusst werden, was für ein massives und gleichzeitig malerisches Flussdelta eigentlich vor uns liegt. Nichtsahnend erreichten wir das andere Seeufer - und damit das heutige Tagesziel Aktse.
Der Bootsfahrer, der Zugleich auch Hüttenwart ist, begleitet uns noch zur STF-Hütte in Aktse, die etwa 5 Gehminuten vom der Landestelle entfernt ist. Dort bezahlen wir die Bootsfahrt und etablieren eine neue Tradition: Wo immer es eine STF-Hütte gibt, gibt es auch eine Belohnung für die heutige Tagesetappe: Coca Cola aus der Dose! Während wir im kleinen Shop in der Hütte sind, fragt uns der Hüttenwart, wo wir heute übernachten. Wir berichten ihm von unseren Plänen der morgigen Besteigung des Skierfes, und er zeigt uns unmittelbar auf einer Landkarte einen 'geheimen' Campingspot, von dem wir am nächsten Morgen Skierfe gut erreichen können. Wir lassen uns auf den Vorschlag ein und so kommt es, dass wir am selben Tag noch etwas mehr als eine Stunde - am Schluss weglos - weiter als geplant laufen, um an den besagten Campingspot zu kommen.
Was jetzt folgt ist magisch. Wir verlassen die Uferzone und die Hütte in Aktse, um auf das nächste Hochplateau aufzusteigen. Das Wetter wird dabei rauer, windiger, und gleichzeitig breitet sich eine Abendstimmung am Himmel aus. Keine Menschenseele war noch auf dem Kungsleden unterwegs, und nach etwa einer halben Stunde verlassen wir den Kungsleden und laufen weglos nochmals etwa eine halbe Stunde zum Campingspot, den uns der Hüttenwart mitgeteilt hatte. Dabei querten wir eine Herde Rentiere, die sich von uns nicht gross stören liess. Wir folgten einer horizontalen Linie der Waldgrenze entlang des Hügels, bis wir eine grössere Fläche mit dem besagten See vor uns fanden. Ausser einem einsamen Zelt in der Ferne war hier nichts. Zu unserer Linken war der Aufstieg zum Skierfe, den wir morgen in Angriff nehmen. Hinter uns im Tal lag der See, den wir gequert haben, und vor uns eine Ebene und ein kleiner See, wo sich am Horizont ein paar sanfte Erhebungen zeigten. Die Abendstimmung intensivierte sich weiter, das Wetter wurde noch rauer, der Wind stärker und stärker. Höchste Zeit, etwas zu essen und sich anschliessend im Zelt zu verkriechen, und den Tag revüpassieren zu lassen. Ausser dem Zelt in der Distanz ist um uns nichts. Selten habe ich mich so klein gefühlt in meinem Leben.